Herbstzeitlose

2,5 Jahre bin ich jetzt hier im Pfarrdienst auf dem Land. In der Pfarrer*innen-Welt ist das vergleichsweise nur ein winzig kleiner Pups. Manche meiner Kollegen aus der Region sind schon 20 Jahre auf ihrer Stelle. In meiner Vorstellung ist das eine unglaublich lange Zeit. Andererseits ist es mit dem Zeitempfinden im Amt irgendwie schräg: Um etwas Neues in der Gemeinde (oder überhaupt bei Kirchens) zu starten und etwas zu verändern braucht es schon ein paar Jahre (mindestens fünf meinte mein Mentor), viel länger als anderswo. Gleichzeitig rasen die Wochen und Monate als Pfarrer*in  nur so an einem vorbei. Ich wette, die 20 Jahre fühlen sich für die Kollegen höchstens an wie sieben Jahre, die allerdings mit Erlebnissen aus 50 Jahren gefüllt sind.

Manchmal ist schon ein einziger Tag so bunt und voll und  irre, dass man darüber einen Roman schreiben könnte. Oder einen Blogeintrag.

Für gestern hatte ich mir viel vorgenommen: erst ein Besuch im Krankenhaus,  dann ein Kasualgespräch für eine Jubelhochzeit, danach eine Traueransprache schreiben (der Herbst greift um sich) und abends dann auf den Ball des Fördervereins zu gehen.

Ich fahre etwas zu spät los in Richtung Krankenhaus, weil ich für Knut Tafel noch die Lieder für den Sonntagsgottesdienst rausgesucht habe. Und weil ich noch Oblaten im Archiv für den Abendmahlskoffer finden (und passend in ihm unterbringen) musste. Die Krankenschwester erwartet mich gegen halb elf, wir haben morgens noch telefoniert. Es ist mein erster Besuch dort und für mich fast eine halbe Stunde Ulffahrt – da wollte ich mich besser vorher anmelden.

Auf der Fahrt merke ich, dass ich emotionaler als sonst bin. Nervös und aufgeregt und auch besorgt. Ich mag diesen Mann, dem es seit ein paar Wochen zunehmend schlechter geht. Ein paar Mal habe ich ihn in seinem Häuschen besucht, er hat einen traumhaften Garten in dem alles grünt und blüht, direkt neben dem Pfarrgarten. Ich finde ihn sehr tapfer, seit Jahren kämpft diese kleine Person mit den wachen brauen Augen gegen den Krebs. Als ich ihn zuletzt gesehen habe (vor einer Woche), lag er im Wohnzimmer auf der Couch und war kaum wieder zu erkennen, so schmal war er geworden. Während unseres Gespräches hielt ich die ganze Zeit seine Hand, oder er meine. So viel Stärke in so dünnen Fingern, oh man. Ich schlug Herrn B. vor, bald wiederzukommen und gemeinsam Abendmahl zu feiern. Seine Augen leuchteten auf  Ja, vielleicht gibt mir das noch die Kraft, bis Weihnachten durchzuhalten.  

Ich finde am Krankenhaus keinen Parkplatz, alles rappelvoll. Was ist hier denn los? Wieder denke ich, dass Seelsorgende doch einen extra Spot für ihre PKWs haben sollten.  But no, Ulf und ich müssen uns in der Nebenstraße platzieren, doof. Mit dem eleganten Abendmahlskoffer in der rechten Hand fühle ich mich optisch seriös, der neue hipsteresce Rucksack jedoch könnte diesen Eindruck wieder schmälern, aber egal. Ich eile zum Eingang zu „Every breathe you take“ von The Police (ungelogen, just in diesem Moment fällt mir auf, wie strange dieser Song in diesem Zusammenhang ist). Die Musik schallt von der immens großen Bühne auf dem Platz vor dem Eingang, daneben Bude an Bude, Bänke, eine Springburg inklusive quietschender Kinder und alles voll mit Leuten. Krass, voll die Action hier, Tag der offenen Tür oder so. Vielleicht ist das ganz schön für die Patienten, dass hier auch mal was los ist. Oder es nervt einfach nur gewaltig. Wie es wohl Herrn B. damit geht? Nachdem ich erst auf der falschen Station (alles voll mit Leuten!!) nach Herrn B. gesucht habe, finde ich das richtige Stockwerk und den Flur zu seiner Station. Endlich!

Plötzlich sind da zwei bunt-schrille Krankenhaus-Clowns direkt vor mir und fragen, was in dem Koffer ist. Sie duzen mich. Ich überlege kurz, ob ich das jetzt unhöflich oder übergriffig finden soll und ob ich überhaupt noch Zeit für so einen Quatsch habe (Herr B. wartet sicherlich schon) und lasse mich widerwillig auf die beiden ein. Mir sind Clowns immer schon unheimlich. Die Mischung aus Mitleid, Irritation und  leichter Furcht, die Clowns bei mir auslösen, überfordert mich. Vielleicht bleibe ich deshalb stehen und zeige, was sich in meinem Koffer verbirgt: der kleine Kelch, das Kreuz aus Holz, Kerzenständer, Kerzen, ein Feuerzeug,  die Patene und die Oblaten von vorhin. Aufgerissene Augen, großes Staunen, Theatralik auf dem Krankenhausflur, Ohhhh, Ahhhh, toll.

Ich frage nach, wen sie schon besucht haben und ob sie wohl auch schon bei Herrn B. waren. Die Clowns tauschen einen bedeutungsvollen Blick aus, eine zückt einen Zettel, tippt auf etwas Unlesbares, zeigt mir den Zettel und meint, dass sie nicht bei Herrn B. gewesen wären, weil Herr B. laut diesem Zettel schon verstorben sei.  Ähhh, wie bitte? Aber das wüsste ich doch. Ich hab doch noch die Schwester angerufen heute morgen und die meinte, ich könnte gut heut vormittag… Das kann doch gar nicht sein!  Obwohl ich den beiden keine bösen Clownsabsichten unterstelle, glaube ich ihnen reflexartig kein Wort. Das ist bestimmt ein Missverständnis, ein Irrtum. Herr B. ist da sicher in irgendeinem Zimmer und freut sich schon auf meinen Besuch und das Abendmahl. Eine der Clowns schenkt mir zum Abschied einen rot glitzernden Stern, der mir Mut machen soll oder so. Ich klebe ihn auf den Koffer, finde eine Schwester und frage, wo Herr B. liegt.

Sie: Gleich vorne rechts, können Sie gerne reingehen. Ich: Und wie geht es ihm? Ist alles in Ordnung? Diese Clowns da meinten, irgendjemand sei gestorben, aber Herrn B. geht es doch gut oder? Ich hab doch noch angerufen heute früh.  Sie:  Ja, ja ich weiß, Wir haben telefoniert. Heute Nacht ist er gestorben. Eben war sein Sohn da und hat die Sachen abgeholt.

Zack. Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Ich realisiere, dass ich zu spät gekommen bin, viel zu spät. Die Clowns hatten wirklich Recht. Scheiße. Der arme Herr B., die arme Frau B., das wird schlimm werden alles. Oh je. Oh je. Ich war noch nie mit einem verstorbenen Menschen alleine in einem Raum. Überhaupt habe ich bis jetzt erst einen einzigen Toten gesehen. Mir wird mulmig. Gleich vorne rechts liegt er also. Ich nehme den nutzlosen Koffer, gehe  ein paar Schritte, hole tief Luft und öffne die Tür.

Eine LED-Kerze flackert, Herr B. liegt in seinem Bett, eine rote Blume auf der grün gestreiften Bettdecke, Fotos der Enkelkinder in Sichtweite. Tatsächlich, als würde er schlafen. Ich stelle Rucksack und Koffer auf den Boden und setze mich links neben ihn. Bis auf das leise Ticken einer Uhr ist es ganz still im Zimmer. Man sieht Herrn B. nicht an, ob er sich hat quälen müssen, aber ich weiß von der Schwester, dass es nicht leicht für ihn war. Oder er hat es dem Tod nicht leicht gemacht, was ich für wahrscheinlicher halte. Ich bleibe eine ganze Weile bei ihm und bete, halte Stille, singe ein paar Zeilen, segne ihn ein letztes Mal und ein allerletztes Mal, dann wieder Stille. Fast wundert es mich, dass er nicht doch zwischendurch atmet. Gut, dass ich erst im Krankenhaus von seinem Tod erfahren habe. Wahrscheinlich wäre ich sonst nicht hingefahren.

Ich nehme meinen Koffer und den Rucksack und gehe über das Treppenhaus ins Erdgeschoss. Uff. Auf dem Weg werfe ich einen Blick aus einem Fenster nach unten auf das wilde Treiben und  erkenne den hünenhaften Vater von Flo, meinem Konfirmanden aus dem letzten Jahr an einem Stehtisch vor der Bühne. Flo sitzt mit seiner Posaune inmitten eines großen Blasorchesters auf der Bühne. Ich beschließe, noch kurz bei den beiden vorbei zu schauen.

Als ich den Koffer und den Rucksack unter den Stehtisch stelle, ist es halb zwölf. Das Orchester spielt Filmmusik (die Trommeln! Das Xylophon! So viel Action!), Flos Vater bringt heißen Kaffee, mich durchströmt tiefe Dankbarkeit. Die Krankenhaus-Clowns tragen eine unfassbar bunte Torte vorbei und bieten mir ein Stück an, aber ich mag jetzt nicht. Ich könnte schwören, in ihren Blicken war auch eine Spur Traurigkeit.

Fortsetzung folgt.


7 Antworten zu “Herbstzeitlose”

  1. Es war evtl. doch nicht zu spät. Nach dem Tod meiner Schwiegermutter im Krankenhaus* kamen wir eine Stunde später und mein Mann und ich hatten das sichere Gefühl, dass sie noch „da“ sei. Das konnte man irgendwie spüren. Wohin die Seele auch immer geht, es vergeht etwas Zeit, bis sie „wegfliegt“. Es war bestimmt gut, dass Sie noch eine Weile dort geblieben sind und ihm seinen Segen gegeben haben…

    *https://paulacolumna.wordpress.com/2012/05/17/brunhilde-verabschiedet-sich-ii/

    Gefällt 1 Person

  2. Hallo,
    ich wollte mich nur Mal bedanken, dass es diesen Blog gibt. Als mich relativ kurzfristig (ich war bereits für Jura eingeschrieben, es war zwei Monate vor Studienbeginn) die Frage beschäftigte, ob ich nicht doch Theologie studieren sollte, war dieser Blog eine Art Aha-Erlebnis für mich. Er hat mir gezeigt, was für coole, lustige Leute Theologie studieren und letztendlich Pfarrer sind und hat meine Vorurteile von konservativen, uncoolen Bibelpredigern über den Haufen geworfen.
    MfG Luise

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar